• Frage: Ist das was wir als Wahrheit anerkennen eigentlich eine Illusion auf die wir uns geeinigt haben?

    Frage gestellt alisha am 18 Feb 2022.
    • Foto: Klaus Geiselhart

      Klaus Geiselhart Beantwortet am 18 Feb 2022:


      Zum Teil ja. Wenn wir eine Erklärung für ein Phänomen haben, dann stellt sich die Frage in wie weit sie der Wirklichkeit entspricht. Was sie sicher nicht tut ist, die Wirklichkeit abbilden. Unsere Erklärung besteht aus Sprache oder mathematischen Formeln. Damit ist sie wesenhaft anderes als das wirklich existierende Phänomen. Wir können unsere Wahrheiten aber auch anhand dessen bewerten, welche Orientierung oder Handhabe sie uns ermöglichen. Kann man eine Wahrheit anwenden und bewirkt man damit einen Unterschied in der Welt, dann gibt es gute Gründe diese Wahrheit als gültig anzunehmen (Man bemerke wahr ist damit nicht automatisch auch gut, denn manche Wirkungen können auch schädlich sein. Ein guter Umgang mit dieser Wahrheit wäre dann die Vermeidung ihrer Anwendung). Oft lassen sich so auch bessere von schlechteren Welterklärungen unterscheiden, wenn die eine ein Phänomen besser handhabbar macht als die andere. Es kann aber auch sein, dass sich zwei Wahrheiten als gültig erweisen, obwohl sie sich widersprechen (Inkonsistenz). Dies ist möglich, wenn sie beide einen jeweils anderen Aspekt eines Phänomens handhabbar machen. Die Pocken wurden übrigens mit einem Wissen ausgerottet, dass heute nicht mehr gültig ist.

    • Foto: Roman Stilling

      Roman Stilling Beantwortet am 19 Feb 2022:


      Das ist ja schon eher eine philosophische Frage 🙂
      Du könntest dich mit dem Themen „Erkenntnistheorie“ und „Konstruktivismus“ beschäftigen.
      Die Frage ist ja, ob es eine Welt außerhalb unserer Wahrnehmung gibt, oder anders gesagt, ob das was wir wahrnehmen, die Realität tatsächlich gut widerspiegelt.
      Nimm als Beispiel die Farben, die wir sehen. Wenn wir beide uns etwas blaues ansehen, zB ein Blaues Quadrat – sehen wir dann die gleiche Farbe, also haben wir den gleichen Eindruck, oder sehen wir etwas unterschiedliches und nennen es aber beide „blau“, weil wir es halt so gelernt haben? Wir haben keine Möglichkeit das zu überprüfen. Wir können zwar die Wellenlänge des blauen Lichts messen und die ist ja auch wirklich für uns beide gleich – aber das nichts darüber aus, wie wir dieses blau tatsächlich für uns selbst „im Geiste“ wahrnehmen. Man nennt das auch das „Qualia Problem“: https://de.wikipedia.org/wiki/Qualia
      Und das kann man auf alle Sinneseindrücke ausweiten. Macht man damit immer so weiter, kann man die ganze Welt, die wir erleben immer weiter „dekonstruieren“, bis nichts mehr übrig bleibt. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir die gesamte Realität um uns herum im Geist „konstruieren“: https://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivismus_(Philosophie)
      Wenn man so will, ist die Matrix (aus dem Science-Fiction Film) die ultimative Konstruktionsmaschine: Nur durch stimulation des Gehirn wird den Menschen in dem Film in eine Welt vorgespielt. Alles fühlt/hört sich echt an, sieht echt aus, etc.
      Aber wie können wir uns dann noch sicher sein, dass wir selbst nicht auch nur eine Illusion sind? Auf diese Frage hat der französische Philosoph Rene Descartes die berühmte Antwort gegeben: „Ich denke, also bin ich.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Cogito_ergo_sum
      Ich persönlich glaube nicht, dass wir in so einer Matrix leben. Wir können eben nicht beliebig alles vorstellbare konstruieren, es gibt Regeln, nämlich die Naturgesetze und die Dinge laufen zu einem gewissen Teil vorhersagbar und reproduzierbar ab – nur deshalb können wir ja überhaupt Wissenschaft betreiben. Das Qualia Problem löst das zwar erstmal nicht, aber ich denke, dass wir in etwa die gleichen biologischen Prozesse nutzen und deshalb das Ergebnis der Sinneseindrücke sehr ähnlich sein sollte. Es gibt davon jedoch sehr bizarre Abweichungen, nämlich bei Menschen mit Synästhesie: http://www.synaesthesie.org/

      Wissenschaftlich gesehen ist die Frage, was Wahrheit ist, auch nicht leicht zu beantworten. Als Wissenschaftler beschreiben wir die Welt mithilfe von Modellen oder Theorien. Damit können wir uns aber der Wirklich immer nur annähern. Immer wieder finden wir etwas, dass nicht zur aktuellen Theorie passt und müssen sie dann verändern. Beispiele sind zB die Urknalltheorie, die Relativitätstheorie oder das Standardmodell der Teilchenphysik. Die Relativitätstheorie ist besonders interessant: Vor Einstein galt die Theorie von Newton darüber was Gravitation ist. Einstein hat das völlig verändert. Und tatsächlich gibt es Beobachtungen, die mit der Newtonschen Theorie nicht vereinbar sind, und daher brauchen wir die Theorie von Einstein, um diese Beobachtungen zu erklären. Aber ist die Einsteinsche Theorie nun die Wahrheit? Ich denke nicht. Irgendwann werden wir etwas entdecken, dass nicht zu Einsteins Theorie passt und werden eine neue Theorie entwickeln müssen. Und so nähern wir uns immer mehr der „Wahrheit“ an, werden da aber wohl nie ankommen; es ist ein ewiger Prozess. Das was aktuell dann als „Wahrheit“ gilt, nennt man den „Wissenschaftlichen Konsens“ oder den „Stand der Wissenschaft“: https://de.wikipedia.org/wiki/Stand_der_Wissenschaft

      Vielleicht begibst du dich mit diesen Ideen mal auf einen Deep Dive durch die Wikipedia oder die Geschichte der Philosophie. Ein gutes Buch für Schüler*innen, das ich als Schüler sehr gern gelesen habe, ist „Sophies Welt“ von Jostein Gaader. Ich denke, so wie du die Frage gestellt hast, wirst du das auch mögen.

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